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«mehr als wohnen» – der Name der Baugenossenschaft ist Programm. Welche konkreten Ideen stecken dahinter?

«mehr als wohnen» wurde 2007, auf das 100-jährige Jubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus folgend, in Zürich gegründet. Über 30 Genossenschaften schlossen sich damals mit dem Ziel zusammen, ein innovatives und wegweisendes Pilotprojekt für den gemeinnützigen Wohnungsbau zu realisieren. Unter anderem sollten Ideen gesucht werden, wie man sich den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft1 nähern könnte, mit welchen Wohnungstypologien es möglich wäre, den vielfältigen Wohn- und Lebensformen Rechnung zu tragen, und wie die Bewohnenden mit Partizipationsmöglichkeiten ihr Wohnumfeld mitverantwortlich gestalten könnten.

2015 hat die Baugenossenschaft «mehr als wohnen» das Quartier Hunziker Areal in Zürich-Leutschenbach fertiggestellt. Wie wurden die Visionen der Genossenschaft umgesetzt?

Von Anfang an wurde ein dialogischer Planungsprozess verfolgt. In sogenannten Echoräumen wurde der Austausch zwischen der Bauherrschaft, den Genossenschaftsmitgliedern und den Planenden ermöglicht. Die Ergebnisse des Architekturwettbewerbs wurden gemeinsam intensiv diskutiert und weiterentwickelt. Diese moderierten Anlässe fanden drei- bis viermal jährlich statt. Diskussionsthemen waren zum Beispiel Nachhaltigkeit, Freiwilligenarbeit, Aussenraum, Biodiversität, Gebäudetechnik, alternative Währung und neue Wohnformen. Ab und zu bildeten sich Arbeitsgruppen, die bestimmte Themen vertieften und die Ergebnisse wieder in die Echoräume zurücktrugen.


Die Clusterwohnungen verfügen über gemeinsamen grosszügigen Wohnraum und eine gemeinsame Küche. Foto: Ursula Meisser

Das Hunziker Areal setzt sich aus 13 einzelnen Gebäuden zusammen, die von fünf unterschiedlichen Architekturbüros entworfen und ausgeführt wurden. Wie hat sich diese Bauweise bewährt?

Mit dem städtebaulichen und architektonischen Konzept konnte ein abwechslungsreiches Quartier entstehen, das mit ganz unterschiedlichen Einzelbauten eine vielseitige Wirkung erzeugt. Die Gebäude zeigen verschiedene Gestaltungs- und Bauweisen, weil den Architekt*innen mit dem Regelwerk «Häuser im Dialog» anstelle von exakten Vorgaben bewusst nur lockere Spielregeln mitgegeben wurden. Den zwischen den Gebäuden entstehenden Plätzen und Räumen schenkten die Beteiligten bei der Entwicklung viel Aufmerksamkeit. Die relativ grossen Gebäudetiefen bringen einen Vorteil bei den Kosten und beim Energie- und Ressourcenverbrauch. Ein Forschungsprojekt des Bundesamtes für Energie betraf unter anderem die Lüftungssysteme. Durch die Einzelbauweise konnten in den verschiedenen Häusern unterschiedliche Lüftungssysteme eingebaut werden. Die Ergebnisse dieser Studie wurden 2018 in einem Schlussbericht2 veröffentlicht.

Nun zum Wohnen: Auf dem Hunziker Areal leben heute rund 1200 Menschen in etwa 370 Wohnungen. Das Wohnungsangebot ist sehr vielfältig. Welche unterschiedlichen Wohnungstypen wurden realisiert und welches Zielpublikum wollten Sie damit ansprechen?

Bei der Definition des Wohnungsangebots wurde der städtische Bevölkerungs-Mix in Zürich als Richtschnur genommen. Es sollten sowohl alle Lebensphasen als auch alle Altersgruppen angesprochen werden. So bietet das Hunziker Areal Wohnraum für sich verändernde Bedürfnisse, über verschiedene Familienkonstellationen und Lebensphasen hinweg sowie für ganz unterschiedliche Haushaltsformen. Das Angebot ist entsprechend breit, vom einfachen Studio bis zur 13½-Zimmer-Clusterwohnung gibt es alles. Dadurch soll die soziale Nachhaltigkeit und Diversität der Siedlung gestärkt und Innovation im Wohnen und Leben ermöglicht werden. Neben Wohnungen können auch einzelne Arbeitszimmer gemietet werden. Damit will die Baugenossenschaft das Arbeiten und Wohnen am selben Ort fördern. Drei Wohnateliers bieten eine Kombination von Wohn- und Arbeitsräumen. Für alle Wohnungen bestehen Belegungsvorschriften: Die maximale Wohnungsgrösse entspricht der Anzahl Personen plus ein Zimmer.


Im Gebäude am Dialogweg 6 befinden sind insgesamt sechs Wohnungen mit 10½ Zimmern und fünf Wohnungen mit 12½ Zimmern. Auf einer Etage befinden sich jeweils zwei Clusterwohnungen: Eine Wohnung hat 12½ Zimmer (400m2) und die andere 10½ Zimmer (324m2).

Sie haben beim Hunziker Areal mit insgesamt 16 Clusterwohnungen eine neue, innovative Wohnidee realisiert. Bei unserem Ersatzneubau an der Lerchenhalde planen wir ebenfalls eine solche Wohnung mit 8-10 Einheiten für Genossenschafter*innen ab 60 Jahren. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser Wohnform und welche Empfehlungen würden Sie uns für unser 60plus-Bauvorhaben mitgeben?

Die Clusterwohnungen sind eine Kombination aus privaten Wohneinheiten mit ein bis zwei Zimmern und gemeinsam genutzten Flächen. Damit wurden Wohngemeinschaften ermöglicht, die zugleich private Rückzugsmöglichkeiten bieten. Die eigene Nasszelle und eine kleine Teeküche sowie die gute Schallisolation sorgen für mehr Privatsphäre als in herkömmlichen WGs. Die Wohnung zeichnet sich aus durch einen gemeinsamen grosszügigen Wohnraum und eine gemeinsame Küche.

Die Wohnungen werden von den Bewohner*innen selbst verwaltet. Sie haben dafür Vereine geründet, die gegenüber der Baugenossenschaft als Mietinstanz auftreten. Das hat sich sehr bewährt, da sich die WGs selbstständig erneuern und verändern, aber selten eine ganze Gruppe als Ganzes auszieht. Dies bedeutete bei der Erstvermietung allerdings viel Arbeit. Der Gruppenprozess ist komplex und daher zeitintensiv. Es braucht Zeit für eine ausreichende Unterstützung und eine gute Organisation bei der Erstvermietung.

Weshalb haben sich die Genossenschafter*innen für das Wohnen in einer Clusterwohnung entschieden?

Bei den meisten ist es die Entscheidung, gemeinschaftlich wohnen zu wollen. Daneben waren aber auch Komfortargumente wichtig. Clusterwohnungen bieten den einzelnen mehr Rückzugsraum als eine konventionelle WG. Ein weiterer Vorteil ist, dass das Zusammenwohnen wie in einer Grossfamilie viele Synergien bringt. Lebenshaltungskosten und Sorgearbeit können geteilt werden. So gesehen ist es auch eine günstige Wohnform. Es hat sich gezeigt, dass die Bewohner*innen der Clusterwohnungen sehr offen sind und immer wieder wichtige Impulse für das ganze Quartier geben. Viele Anlässe wie das inzwischen auch über das Quartier hinaus bekannte Hunzikerfest gehen auf die Initiative von Bewohner*innen der Cluster-Wohnungen zurück.


Ist Mehrgenerationenwohnen bei «mehr als wohnen» auch ein Thema? In welcher Form wurde diese Art des Zusammenlebens umgesetzt und wie wird sie gelebt?

Es gibt ein Projekt von Pro Senectute, das ältere Menschen mit Studierenden in einer Wohngemeinschaft zusammenbringt. Auch im Hunziker Areal gab es eine solche WG. Mit der ersten Corona-Welle wurde diese Wohnform dann leider aufgehoben, da die Bedürfnisse der Bewohner*innen auseinandergingen. Daneben gibt es aktuell keine Wohnungen mit diesem speziellen Fokus. Aber wie schon erklärt, will das Quartier als Ganzes alle Altersgruppen ansprechen. Es hat sich allerdings bei der Erstvermietung gezeigt, dass es schwierig war, ältere Menschen für das Wohnen auf der ehemaligen Industriebrache am Stadtrand von Zürich zu begeistern. Viele von ihnen konnten sich zu Beginn vielleicht noch nicht vorstellen, wie sich das Quartier entwickeln wird. Die Erstvermietung ab Plan über einen Online-Prozess bedeutete eine weitere Schwierigkeit. Heute bietet das Hunziker Areal mit den hindernisfreien Wohnangeboten und den vielfältigen Möglichkeiten ein soziales Netz aufzubauen, auf jeden Fall alle Voraussetzungen für ein zufriedenes Älterwerden im eigenen Quartier. Wir arbeiten nun aktiv daran, den Anteil älterer Menschen im Quartier zu erhöhen. Ganz gezielt werden zum Beispiel 1½- und 2-Zimmerwohnungen für Menschen über 55 Jahre ausgeschrieben, und die Quartiergruppe «60PlusMinus» arbeitet aktiv mit Vorstand und Geschäftsstelle an diesem Thema.

Im Erdgeschoss gibt es auf dem Hunziker Areal fast keine Wohnungen, sondern nur Gewerbeflächen und sogenannte Allmenden. Welche Überlegungen haben zu dieser Lösung geführt?

Das Hunziker Areal sollte nicht den Charakter eines reinen Wohnquartiers aufweisen. Ziel war ein lebendiges Quartier. Deshalb gibt es im Erdgeschoss fast keine Wohnungen, sondern nur Platz für Gewerbebetriebe und Flächen für die gemeinschaftliche, selbstbestimmte Nutzung, den sogenannten Allmenden3. Hinzu kommen Räumlichkeiten für Kindergarten, Kita und die Heilpädagogische Schule, die an die Stadt Zürich vermietet werden. Die Allmendflächen verteilen sich auf 15 Gemeinschaftsräume. Sie werden von den Quartiergruppen rege genutzt – beispielsweise für eine Werkstatt, einen Co-Working-Space, einen Indoor-Spielplatz sowie einen Bewegungs- und Meditationsraum, zu welchem später noch ein kleines Fitness-Studio dazu gekommen ist. Im Weiteren gibt es eine Tauschhalle, ein Spielgerätelager, Kellerräume für Veranstaltungstechnik und anderes Material von Quartiergruppen, ein Nahrungsmitteldepot und ein Gemüsedepot. Der Quartiertreffpunkt ist ein Allmendraum, der als erweitertes Wohnzimmer für das Quartier gedacht ist. Dort finden regelmässig Veranstaltungen, wie zum Beispiel ein Sonntagscafé, Konzerte und Kinoabende statt. Aktuell schränkt die Pandemie leider auch diese Aktivitäten ein.


Neben den gemeinschaftlichen Bereichen bieten die Clusterwohnungen genügend Rückzugsmöglichkeit. Die privaten Bereiche verfügen über eine Nasszelle und eine Teeküche und die gute Schallisolation sorgt für mehr Privatsphäre als bei herkömmlichen WGs. Foto: Ursula Meisser

Die Partizipation – die Mitwirkung und Mitgestaltung der Bewohner*innen – spielt bei «mehr als wohnen» eine wichtige Rolle. Mit welchen Mitteln erreichen Sie dies?

Neben der Generalversammlung gibt es jährlich eine häuserübergreifende Bewohnendenversammlung sowie für Gewerbemietende eine Gewerbeversammlung. Jedes Haus ist zudem verpflichtet, pro Jahr mindestens eine Hausversammlung durchzuführen. In diesen Zusammenkünften werden unter den Bewohner*innen Fragen zum Zusammenleben im Haus und im Quartier diskutiert. Im Hunziker Areal gibt es weiter über 40 Quartiergruppen sowie die Allmendkommission, welche die Allmende verwaltet. Quartiergruppen bestehen aus mindestens fünf Bewohnenden, die ein gemeinsames Interesse teilen: zum Beispiel Kinderbetreuung, Yoga, Fitness, Malen, Kino, Spielplatz, Sauna. Die durch sie organisierten Angebote sind für alle offen und nicht profitorientiert. Die Quartiergruppen können bei der Allmendkommission Anträge für finanzielle Beiträge stellen. Diese stammen aus dem Genossenschafts- und Solidaritätsfonds, der aus einkommensabhängigen Beiträgen der Bewohnenden geäufnet wird. Die vom Vorstand unabhängige Allmendkommission besteht aus fünf von der Generalversammlung gewählten Bewohnenden. Sie unterstützt ein lebendiges Gemeinschaftsleben auf kultureller, sozialer und ökologischer Ebene. Es kommen von den Genossenschafter*innen viele Impulse zur Weiterentwicklung von Areal und Genossenschaft – langweilig wird es nie.

Zum Schluss: Was hat sich aus Ihrer Sicht bewährt und was würden Sie heute anders machen?

Insgesamt können wir eine positive Zwischenbilanz ziehen. Unser Monitoring zeigt, dass die
Gebäude die gesteckten Ziele bezüglich den Energiekennwerten einhalten. Die Genossenschaft «mehr als wohnen» befindet sich auf dem Zielpfad der 2000-Watt-Gesellschaft1. Auch die Wohnzufriedenheit ist sehr hoch. Somit wurden die wichtigsten strategischen Ziele erreicht.

Was die Altersdurchmischung anbetrifft haben wir noch Potential bei älteren Menschen. Es stellt sich die Frage, wie diese Anspruchsgruppe in der Projektentwicklung und bei der Erstvermietung besser erreicht werden kann, oder mit welchen Mitteln innovative Wohnformen besser vermittelt werden könnten.

Die Pandemie sorgt aktuell für einen Digitalisierungsschub. Die Partizipationsprozesse müssen nun neu gedacht werden. Das kann dazu führen, dass Prozesse niederschwelliger werden. Über digitale Medien könnten zum Beispiel auch Alleinerziehende, Menschen mit Behinderungen oder zurzeit auch Risikogruppen wie ältere Menschen besser erreicht werden. Die Digitalisierung kann aber auch zu neuen Ausschlüssen führen. Hier müssen wir eine Balance finden. Die Zukunft liegt sicher in hybriden Prozessen.

Dieses Interview ist im Genossenschafts-Magazin WohnZeit erschienen. Mehr zu innovativen Wohnformen in Zürich finden Sie im pdf des Magazins.
Website Baugenossenschaft «mehr als wohnen»